Ein altes Haus, erste Etage. Der Schlüssel wird umgedreht, als ich klingel. Die Haustür ist verschlossen. Eine verhältnismäßig junge Frau von 55 Jahren führt mich in eine sehr aufgeräumte Wohnung. Sofort kommt ihr Mann hinzu. Ich grüße ihn. Sie meint, er verstehe das alles doch nicht und macht eine verneinende Handbewegung. Auf das Sofa könnten wir uns gerade nicht setzen, da habe er irgendetwas hingeschmiert. Zwar ist alles wieder ganz sauber, riecht frisch, aber das Sofa ist noch feucht. Mir wird schlagartig klar: Die meisten Wohnungen, deren Männer dement wurden, sind blitzsauber, aufgeräumt, geradezu klinisch. Und jedes Mal beschleicht mich das gleiche Gefühl von Gefängnis. Die Frauen sind sehr angespannt. Sie gehen mit ihren rastlos umherlaufenden Männern eher schroff um. Man spürt eine gewisse Aggressivität und Unruhe, und es ist nicht ganz klar, ob sie vom kranken Mann oder der angespannten Frau ausgeht.
Er setzt sich, steht auf, setzt sich, geht ein paar Schritte und setzt sich wieder. AJs er ins Schlafzimmer geht, entschuldigt seine Frau sich und läuft ihm hinterher. Kurze Zeit später schiebt sie ihn ins Wohnzimmer zurück und sagt leise, er habe schon wieder was an- oder ausziehen wollen. Manchmal schaffe er es, wenn sie nicht aufpasst, bis zu vier Hosen übereinander zu ziehen. Sie ist selbst krank. Seit der Geburt der Tochter leidet sie unter Depressionen, nimmt regelmäßig Medikamente: Antidepressiva und Beruhigungsmittel. Trotzdem macht sie den Eindruck, als käme sie mit der schwierigen Situation zurecht. Ihr hilft dabei sicher, dass sie gelernte OP-Schwester ist, also quasi vom Fach, auch wenn sie diesen Beruf nur wenige Jahre ausübte.
Wenn sie über die Grundpflege ihres Mannes spricht, klingt sie wie ein Profi, legt beinahe die gleiche Distanz an den Tag wie ein Pflegedienst. Die Pick-Demenz, erzählt sie, unter der ihr Mann leide, führt im Anfangsstadium zu starken charakterlichen Veränderungen und massiven Problemen im Sozialverhalten. Vielleicht ist die kühle Distanz, die sie ausstrahlt, die einzige Möglichkeit, mit einem Partner umzugehen, den man so nie gekannt hat. Ja, gibt sie zu, sie habe sogar einmal an Scheidung gedacht, allerdings bevor sie erfuhr, dass es sich bei den charakterlichen Veränderungen um eine Krankheit handelte. Bis dahin habe ihr heute 60-jähriger Mann unendlich viel gearbeitet, bis zu 70 Stunden in der Woche waren normal.
Ein Morgenritual, das viele Familien mit Demenzkranken praktizieren, gibt es in diesem Hause nicht. Manchmal steht er gegen 6.00 Uhr auf, meist aber erst um 7.00 Uhr oder 8.00 Uhr, während seine Frau nie vor 2.00 Uhr oder 3.00 Uhr nachts einschlafen kann. Sie würde morgens dafür gern länger schlafen. Aber notgedrungen steht sie, wann immer er den Tag beginnt, mit auf. Dann wäscht sie ihn und zieht ihn an, bringt ihn ins Wohnzimmer, schließt die Tür zu, und geht noch mal schlafen. In dieser Zeit beginnt er, im Zimmer auf und ab zu wandern, sitzt, um wieder aufzustehen und weiter zu wandern. So geht das den ganzen Vormittag und Abend. Am Nachmittag, sagt sie, ist er dann schon einmal „20 Minuten kaputt, dann sitzt er, sonst läuft er immer“. Die Krankenkasse wollte keinen Leichtgewicht-Rollator bezahlen. Erst nach mehrmaligem Telefonieren genehmigte sie einen Topro Troja. Ohne diese Gehhilfe wäre die Situation noch schlimmer.
Die morgendliche Laisser-faire-Haltung scheint zwar stark durch das Krankheitsbild beider Ehepartner bedingt zu sein, doch ihre Wurzeln hat sie wohl eher in seiner früheren. Der Arbeitstag begann flexibel und erstreckte sich oft bis weit in den Abend hinein. Sie wiederum ist seit über 30 Jahren Hausfrau und seit 20 Jahren krank. Ihr Tagesablaufgestaltete sich schon früher anders als bei vielen Menschen mit geregelter Erwerbsarbeit. Damit er überhaupt einmal zur Ruhe kommt, erhält er Medikamente verabreicht, auch tagsüber, anders wäre es nicht auszuhalten. Trotzdem muss seine Frau ihn, will sie morgens noch etwas schlafen, ins Wohnzimmer sperren, „sonst käme er wieder ins Schlafzimmer zurück, würde sich am Schrank zu schaffen machen und ich hätte gar keine Ruhe.“ Später erledigt sie die Hausarbeit, kocht, hilft ihm beim Essen und nutzt jede Gelegenheit, sich auch einmal zu setzen, wenn er endlich für kurze Zeit still ist und ruht. Sie schauen viel fern. „Ich muss mich halt dran gewöhnen, dass er läuft. Und ab und zu“, sagt sie lachend, „dreh’ ich auch mal durch“. Aber meistens geht es.